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Reisen > Türkei 2008
Anarvarza, 3-3-3 und erste Christen
Die Strecke nach Yumurtalik führt zunächst über Kozan. Bis dahin soll die Straße zwar gut sein, sich aber endlos ziehen. Kozan hatte ich nicht nur als Etappenziel im Kopf, in der Nähe soll sich ja die erst kürzlich entdeckte Bergfestung befinden, die als mögliches Versteck für den legendären Diadochenschatz gedient haben könnte. Die Strecke ist wirklich endlos, wenngleich traumhaft schön, selbst im Regen. Zeitweise fahren wir durch tiefe Schluchten, entlang des Göksu Nehri. Etwas nervös macht mich die leicht glimmende Überspannungsanzeige an meinem Motorrad, die auf einen sich anbahnenden Reglerdefekt hinweisen könnte, eine Africa-Twin-Krankheit. Zwar habe ich einen Ersatzregler mit, ein Reglersterben zieht aber häufig auch das Aus der Batterie und anderer Verbraucher nach sich, was ich nicht riskieren möchte. Also ein kurzer Stopp mit Kontrollmessung: buchstäblich alles im grünen Bereich, muss wohl an der Feuchtigkeit liegen.
Als das Nordufer des Kozan-Stausees vor uns auftaucht - wenn, dann müsste es hier zu der Festung gehen -, finden wir keinen Hinweis darauf. Da es wieder blitzt, streichen wir Yumurtalik und suchen uns ein Hotel in Kozan. Vielleicht kann man uns da ja einen Tipp im Blick auf die neue Ausgrabungsstelle geben. Das wohl einzige Hotel ist recht modern und groß, eher für Geschäftsleute denn für Touris. An einer kleinen Bude essen wir leckeren Hähnchen-Döner, der Inhaber hätte uns noch gern zu seiner Familie nach Hause eingeladen, doch für heute reicht uns die Gastfreundschaft. In einem Lädchen erstehen wir noch ein paar Flaschen Efes-Pils, die uns der Inhaber schön kälteisolierend in Zeitungspapier packt. Nach deren Genuss und nachdem wir unsere Kleidung zum Trocknen ausgebreitet haben, sinken wir schnell in tiefen Schlummer, begleitet von der Hoffnung, dass sich das Wetter bis morgen wieder zum Besseren gewendet hat.
An der Rezeption kann man uns am nächsten Morgen nichts zum Thema Bergfestung sagen, stattdessen lassen wir uns noch die Richtung zur schon lange bekannten Festung Anarvarza beschreiben, die fast auf dem Weg liegen müsste. Beim Bezahlen offenbart sich ein Missverständnis, Rendel hatte am Vorabend einen viel günstigeren Preis für die Übernachtung verstanden, der tatsächliche liegt jedoch völlig im üblichen Bereich.
Unsere Hoffnung hat sich erfüllt, der Himmel ist klar, entsprechend knallt der "Lorenz" vom Himmel. Bis zum Abzweig nach Anarvarza ist es nicht weit, vielleicht 20 Minuten. Im vorgelagerten Dorf fängt uns der Wärter ab und geleitet uns auf seinem Moped zum Einstieg. Wir berappen den Obolus von YTL 2,- pro Person und lassen uns den Aufstieg beschreiben. Die Festung Anavarza liegt auf einem über 200 Meter hohen Burgberg, ein Ausläufer des Taurus, der in die kilikische Ebene ragt. Sie hatte in der gesamten Antike eine große strategische Bedeutung, wurde gleichermaßen von Piraten, den Römern, von Byzanz und den Osmanen genutzt. Zunächst beeindruckt die Lage, aber auch die einzelnen Komponenten der Anlage sind sehenswert, etwa die Stadtmauer mit ihren vier Toren und 20 Bastionen (zum Teil erhalten), der Triumphbogen, der Aquädukt sowie die Ruinen der Apostelkirche, zudem die eigentliche Festung. Der schweißtreibende Aufstieg hat sich gelohnt. Wir reden mit dem Hirten, der sich im Schatten der Festungsmauern ausruht, während seine große Kuhherde inmitten der Ruinen weidet; dabei drückt er uns noch eine Ladung Pistazienkerne in die Hand, die, vermutlich nachgemachte, "antike" Münze lehne ich dankend ab.
Wieder bei den Motorrädern lässt mich der klebrige Schweiß kaum in die Motorradkleidung kommen. Schnell nehmen wir Fahrt auf, um wieder etwas Kühlung zu erhaschen. Hier also ist der Schauplatz der meisten von Yasar Kemals Romanen, hier kletterte sein anatolischer Robin Hood Ince Memed - der "zarte Memed" - herum, wenn er sich mal wieder vor seinem Häschern verstecken musste - und laut diesem Roman wurde hier auch die apodiktische Feststellung getroffen: "Ein Mann muss scheißen können!"
Wir sind auf dem Weg nach Antakya, eines von mehreren Antiochias der Antike. Im letzten Jahr hatten wir das pisidische Antiochien besucht, das jedoch nur noch eine Ruinenstätte darstellt, jetzt soll uns eine wuselige, schon leicht arabisch geprägte Stadt erwarten, die, den verschiedenen ethnischen Einflüssen geschuldet, eine ausgezeichnete Küche haben soll - das hatte uns auch noch ein aus Antakya stammender Reiseleiter in Kappadokien versichert. Wir müssten vor allem die legendäre Süßspeise Künefe probieren und irgendwas mit Innereien, dessen Namen ich mir wohlweislich nicht gemerkt habe. Beiden Antiochias gleich ist, dass sie im Neuen Testament erwähnt werden, vom heutigen Antakya heißt es dort, dass die Nachfolger Jesu dort zum ersten Mal "Christen" genannt wurden (Apostelgeschichte 11,26).
Auf dem Weg passieren wir noch eine weitere imposante Festung, Toprakkale, die sich gegen den Himmel abhebt, sowie das Gebiet von Issos, dessen Name jedem durch die dort geschlagene Alexanderschlacht im Jahr 333 v. Chr. bekannt ist. Zu sehen gibt es hier allerdings nichts, klar, war ja nur ein Schlachtfeld. So biegen wir in den südlichsten Zipfel der Türkei ein, der im Westen vom Meer und im Süden und Osten von Syrien begrenzt wird. Wir passieren die Städte Dörtyol und Iskenderun, letztere soll im Sommer die heißeste Stadt der Türkei sein. Wiewohl es an der Küste entlanggeht, ist die Aussicht zunächst nicht berauschend, Hafenanlagen für Tankschiffe und petrochemische Anlagen beherrschen die Kulisse. Etwas entschädigt werden wir allerdings bei einem Tankstopp. Die Tankstelle hat nach hinten raus, direkt am Meer, eine Terrasse mit kleinem Restaurant.
Die Strecke ist eigentlich easy zu fahren, als wir ins Binnenland Richtung Antakya abbiegen, nimmt jedoch der Seitenwind zu, teilweise in heftigsten Böen. An einer Stelle kann ich Rendel nicht mehr warnen, ich habe echt Angst, dass die Böe sie den Abhang hinunterdrücken könnte. Ging aber gut. (Überhaupt hat uns der Wind meist mehr zu schaffen gemacht als etwa die Wärme; teilweise fuhren wir -zig Kilometer in Schräglage - und das auf gerader Strecke.) Unsere Erwartungen an die Wuseligkeit der Stadt werden nicht enttäuscht. Rendel hadert vor allem mit den unübersichtlichen Kreisverkehren. Wieder einmal nimmt sich ein freundlicher Autofahrer unser an und geleitet uns zum Hotel direkt an einer stark frequentierten Straße. Auch hier ziehen wir gleich viele Blicke auf uns. Wir dürfen die Motorräder auf dem Bürgersteig direkt vor dem Eingang parken. Nachteil ist, dass wir zu unserem Zimmer 70 Stufen - wir haben viel Gepäck! - erklimmen müssen. Das Zimmer hat zwar keine Klimaanlage, ist aber nach hinten raus, wo wenigstens der Straßenlärm nicht so ins Gewicht fällt. Nach dem Duschen setzen wir uns in die kleine Lounge, wo wir uns mit einem in Berlin aufgewachsenen, aber aus Antakya stammenden jungen Türken bekannt machen. Er betätigt sich von Antalya aus als Individualreiseführer, als solcher betreut er gerade einen Deutschen. Der Türke erweist sich als recht gebildet und auch politisch informiert, so bekommen wir noch einige Einblicke in die Situation vor Ort - und zudem noch ein paar Tipps, wo es gutes Essen und auch das berühmte Künefe gibt.
Wir sichten die Restaurantvorschläge und entscheiden uns für das am besten besprochene, leider ist das schon ausgebucht. Das, wo wir schließlich unterkommen, ist allerdings auch nicht gerade zweite Wahl, sondern vorzüglich. Besonders mundet das leckere Humus (ein Brei aus Kichererbsen mit Sesampaste) und eine hiesige Spezialität namens Oruk (auch Icli Köfte genannt), konisch geformte Teigmäntel auf Bulgur-Grundlage mit einer Fleischfüllung. Völlig baff sind wir, als wir für unser opulentes Menü in diesem fast luxuriösen Restaurant nur YTL 53,- inkl. Bier und einer Flasche Wein bezahlen müssen, also etwa 26 Euro! Beim Zahlen spricht uns die Inhaberin an, eine Deutsche, die hierher geheiratet hat. Sie hielt uns zunächst für Angehörige einer Delegation aus Weinheim, der deutschen Partnerstadt Antakyas.
Ich habe mir zwar meine Ohrenstopfen rausgelegt, bin aber wieder mal erstaunt, wie leise selbst größere türkische Städte nachts sein können - okay, vom unvermeidlichen Muezzin mal abgesehen. Die Nacht ist jedoch warm, Rendel schwitzt und bekommt wohl etwas Zug, worauf sich eine Erkältung mit leichtem Fieber einstellt.
Durch Antakya fließt der Asi Nehri, der in der Antike als Orontes bekannt war. Asi Nehri heißt "rebellischer Fluss", wohl, weil er, anders als die meisten anderen Flüsse der Gegend, von Süd nach Nord fließt.
Beim arg mageren Frühstück unterhalten wir uns ein wenig mit einem italienischen Suzuki-V-Strom-Fahrer. Er war im jordanischen Aqaba und ist auf der Rücktour. Der Mann sieht aus wie 50, ist aber in Rente - und augenscheinlich noch recht rüstig. Irgendetwas mache ich verkehrt! Wir wollen ins berühmte Mosaikenmuseum, das hat aber noch zu. So beobachten wir erst eine Parade von Militär und Zivilisten anlässlich des "Feiertags der Jugend, des Sports und des Gedenkens an Atatürk". Die Petruskirche, eine Grotte, in der sich die genannten "ersten Christen" getroffen haben sollen, ist zwar wegen Renovierung geschlossen, vielleicht kann man ja doch etwas sehen. Den Tipp eines Passanten, den wir nach dem Weg fragen, doch den Bus zu nehmen, lehne ich kategorisch ab - das schaffen wir zu Fuß! Frage mich keiner, wie ich dazu kam! Der Weg zieht sich endlos durch etliche Handwerkerviertel, es ist heiß, mir schmerzt die Schulter, die durch die langen Fahrtstrecken schwer verspannt ist. Letztlich kommen wir doch an, dafür gibt's nix zu sehen. Eine türkische Schulklasse aus Kahramanmaras versucht ihre Englischkenntnisse an uns, die Mädchen sehr ernst, die Jungs albern nur herum. Zurück nehmen wir dann doch den Bus.
Nach einem Mittagsschläfchen geht es dann doch noch ins Mosaikenmuseum. Wirklich beeindruckend, die teilweise riesigen, aus Abertausenden Steinchen zusammengesetzten Bilder, manche mit mehreren Metern Kantenlänge bzw. Durchmesser. Auf Teppiche steh ich ja nicht so, aber so etwas ...? Kommt aber in einer 90 m²-Eigentumswohnung vielleicht doch nicht so zur Geltung.
Rendel zieht gerne alleine durch die Orte, so auch heute. Sie hat schon eine Pastahane, so etwas wie eine Konditorei, entdeckt, die Künefe herstellt. Künefe ist eine Süßspeise, die im Wesentlichen aus durchsichtigen Fadennudeln, ungesalzenem Weißkäse, Butter und viel Zucker besteht. Rendel ist begeistert - und ich hab's verschlafen. Auf ihrem Rundgang entdeckt sie auch die katholische Kirche, eine große Methodistenkirche ("Protestan Kilise") und eine Synagoge - allesamt in Betrieb. Interessant, dass ausgerechnet in diesem, aus unsere Sicht hinteren Winkel, die Möglichkeit zu einem - mehr oder minder passablem - Miteinander gegeben zu sein scheint. Wir bedauern, in Deutschland kein Visum für Syrien beantragt zu haben, so nah kommt man kaum wieder dran. (Viele Syrer hingegen kommen in die Gegend zum Urlaub - und, wie wir vielerorts versichert bekommen, um "den Alkohol in Strömen fließen zu lassen".)
In Strömen fließt er bei uns nicht, aber das Restaurant, das wir zunächst am Vorabend aufsuchen wollten, hat heute einen Tisch frei - und eine recht nette Weinkarte. Auch hier, im Antakya Evi (nein, die Inhaberin heißt nicht "Evi", so wie "Bei Rosi", Ev ist vielmehr das türkische Wort für "Haus"), speisen wir vorzüglich, zudem ist das Ambiente sehr typisch, erinnert noch an die französische Kolonialzeit. (Das Hatay, also die Gegend um Antakya, kam erst 1939 per Referendum zur Türkei. Dessen Ausgang wird bis heute von vielen syrischen Nationalisten und anderen angefochten.) - Ein letzter Bummel durch die Gassen, dann fallen wir ins Bett. Morgen erwartet uns ein weiteres Highlight, der in den Reisebroschüren der Türkei allgegenwärtige Nemrut Dagi mit seinen kolossalen Götter- und Herrscherstatuen.