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Reisen > Türkei 2008
Von Ölscheichs, Aramäern und Arabesken:
Kurdistan und Midyat
Bei Siverek steuern wir eine etwas abgelegene Tankstelle an. Uns fiel schon auf, dass hier nicht nur die Frauen, sondern auch viele Männer Kopftücher tragen, ähnlich der Kufija. Ein derart bekopftuchter Mann mittleren Alters sitzt auf einem Diwan vor dem Kassenraum, mehrere andere drumrum. Etwas Türkisch zu sprechen kommt überall in der Türkei gut an, doch hat es hier, im Kurdenland, wo untereinander eben lieber kurdisch gesprochen wird, einen anderen Stellenwert. Nach dem Tanken bittet mich dieser Herr - ich nenne ihn fürderhin "Ölscheich" - auf seinen Diwan, Rendel bekommt einen Stuhl. Wieder mal kommen wir über unsere Reise ins Gespräch, erzählen den erstaunten Zuhörern, die auch von der eingestellten Fähre wissen, von unserem Abenteuer. Der Inhaber betreibt die Tankstelle mit seinen Söhnen. Einer war länger in Deutschland und berichtet, kein Land zu kennen, in dem er so gerne gelebt hätte. Warum? Weil er nirgends so ehrliche, gradlinige und verlässliche Menschen kennengelernt habe. Ich verkneife mir eine Gegendarstellung. Wenn überhaupt, rauche ich nur hin und wieder ein paar Zigarillos, die Selbstgedrehte, die mir der Ölscheich anbietet, lehne ich aber nicht ab. Junge, Junge, das ist aber von dem starken Zeug, nicht von dem für die Gäste! Wir kommen auf die hohen Spritpreise in der Türkei zu sprechen, worauf der Ölscheich in sein Büro geht und mir freimütig eine Originalrechnung seiner Lieferfirma zeigt. Eine überschlägige Rechnung zeigt, dass auch ein kurdischer Ölscheich so manchen Liter Sprit verkaufen muss, um klarzukommen. Die Jungs nehmen gerne unsere Euros, wir sagen Hosca kalin! - "Macht's gut!" und sind wieder on the road.
Die Gegend ist topfeben, karg und steinig, wiewohl überall Landwirtschaft betrieben wird. Auffällig die kleinen Steintürmchen, die wohl die Grenzen der Felder markieren, sehen aus wie kleine Männchen. Hier, nahe der syrischen Grenze, ist es nun wirklich heiß, heiß und trocken. Typisches Fortbewegungsmittel von Jugendlichen und denen, die sich kein Auto leisten können, sind kleine 125er, ähnlich den legendären HONDA Cub. Das kalte Grausen kommt mir jedoch immer wieder, wenn ich sehe, wie und wie ausgerüstet sie mit diesen Dingern, die locker 120 machen, fahren. Auf der Strecke setze ich an, so einen Wahnsinnigen zu überholen, fährt vielleicht 70 - natürlich mit T-Shirt, Stoffhose (Shorts trägt der Türke nicht, was aber auch keinen Unterschied machen würde) und Badeschlappen. In dem Jungen regt sich der Macho, er gibt Gas. Zunächst halte ich bis 100 mit, will mich aber nicht zu einem Rennen provozieren lassen. Als er dann nicht locker lässt und noch Sperenzchen macht, geh ich zum Schein auf ein Rennen ein, in dem ich mich aber schnell "geschlagen" gebe. "Anerkennend" nicke ich ihm zu, er zieht stolz davon.
An einer weiteren Tankstelle machen wir eine Rast, das Thermometer zeigt mittlerweile 42°C im Schatten. Wir sorgen für einiges Aufsehen, werden dann in ein Restaurant geführt. Der Inhaber fährt viel zu viel auf und knöpft uns dann auch viel zu viel ab. Zum Glück sind derartige Erfahrungen selten.
Für heute können wir uns zwischen den Städten Mardin und Midyat entscheiden. Zunächst steuern wir auf erstere zu. Mardin schmiegt sich höchst malerisch an einen Berg, überblickt so die mesopotamische Ebene. Die Geschichte der Stadt soll bis in die Zeiten kurz nach der Sintflut zurückreichen. Hier leben Aramäer, Araber, Kurden und Türken, damit Moslems und aramäische Christen sowie die der Teufelsanbetung verdächtigten jezidischen Kurden. Es wird kolportiert, dass hier - habe ich nicht überprüft - Teile von "Krieg der Sterne" gedreht wurden. Vorstellbar wäre es.
Wir beschränken uns auf ein paar Fotos und die Konsultation des Geldautomaten und fahren weiter in Richtung Midyat. Wir möchten gerne im Gästehaus der Stadt nächtigen, das in einem palastähnlichen, mit aufwendigen Steinmetzarbeiten versehenen Sandsteinbau untergebracht ist. Als wir in der Innenstadt halten, sind wir binnen Sekunden von Menschen umringt, darunter viele Kinder. Einige bieten sich an, uns den Weg zu zeigen, wollen dafür bei uns mitfahren. Rendel traut sich das nicht, mit sanfter Gewalt müssen wir sie davon abhalten, aufzusteigen. In der Altstadt, hier muss das Konuk Evi irgendwo liegen, dasselbe Bild. Die Kinder rennen vor uns her, halten sich an den Koffern fest, zerren, ich muss etwas barscher werden, sonst reißen sie mich um. Schließlich finden wir das Gästehaus. Ich bleibe bei den Kindern und den Moppeds, Rendel geht rein. Mit den Blagen komm ich echt ins Schwitzen, überall fummeln sie dran rum, drücken auf Schalter und Knöpfe. In dem Gästehaus ist gerade ein Fernsehteam untergebracht, die Handvoll Zimmer komplett belegt. Schade, das wäre tatsächlich eine angemessene Residenz gewesen. Sie helfen uns aber noch, ein anderes Hotelzimmer zu bekommen, nach einigem Fragen finden wir es auch, diesmal im neuen Stadtteil Enez gelegen. Auch hier kommt es gleich zu einem kleinen Auflauf, diesmal zumeist Männer, von denen welche um Erlaubnis fragen, sich mit unseren Motorrädern fotografieren lassen zu dürfen ...
In keiner türkischen Stadt findet man durchgängig verschleierte Frauen, doch merkt man schon, dass man hier nicht in Izmir oder Ankara ist. Rendel vermeidet es tunlichst, Männern offen in die Augen zu schauen. Nach dem zu reichlichen Mittagessen haben wir heute keinen Hunger mehr (Durst schon, aber Bier ist hier absolute Fehlanzeige). Dafür gönne ich mir noch einen Besuch beim Berber, dem Friseur, der sich über einen so exotischen Kunden sichtlich freut. Rendel ist immer noch erkältet, knapp 38° zeigt das Fieberthermometer.
Am nächsten Morgen nehmen wir den Bus in Richtung Altstadt. Ich hege die Hoffnung, dass wir vormittags etwas von den lästigen Kindern unbehelligt bleiben, weil die ja in der Schule sein müssten. Zunächst besichtigen wir das prächtige Gästehaus. Heute könnten wir ein Zimmer bekommen, für eine Nacht wollen wir aber nicht umziehen. Erstaunlich, dass der Prachtbau kein Palast, keine Karawanserei oder ein Repräsentationsbau war, sondern ein "schlichtes" Privathaus. Mich faszinieren vor allem die endlosen, fein ausgeführten Steinmetzarbeiten - Arabesken, florale Elemente, Wasserspeier. Wir dürfen einen Blick in eins der Gästezimmer tun - ob wir vielleicht doch noch ...
Vom Dach haben wir einen herrlichen Blick über die Altstadt, auffallend, dass hier Kirchtürme statt Minarette die Kulisse beherrschen. Wir würden gerne eine solche Kirche besichtigen, finden im Gassengewirr den Eingang nicht und irren etwas umher. Schließlich kommen wir an ein leicht offen stehendes Stahltor, an dem ein Kreuz prangt. Wir lugen hinein, der Innenhof ist verlassen. Schließlich taucht eine Frau mittleren Alters auf, die sogar Deutsch spricht. Mangels Zeit verweist sie uns an einen Mann um die 40, der uns die Kirche zeigen möchte. Ein Junge wird losgeschickt, der mit einem großen, altertümlichen Schlüssel wiederkommt. Die Kirche ist recht klein, ziemlich schlicht - anders, als von anderen orthodoxen Richtungen gewohnt. Wir stellen viele Fragen, insbesondere über die Situation der Christen in dieser Gegend. Hierbei handelt es sich vor allem um aramäische Christen, die so genannten "Süryani". Sie sprechen noch ein Aramäisch, das dem, das Jesus und seine Jünger gesprochen haben, nahekommt. Früher stellten die Aramäer an die 90% der Bevölkerung Midyats, jetzt umfasst die Gemeinde nur noch etwa 400 Seelen. Unser Gesprächspartner Isa betreut vor allem die umliegenden Klöster wie etwa das bekannte Mar Gabriel im Tur Abdin. Er erzählt uns von den Schwierigkeiten, die Angehörige seiner Gemeinschaft haben. Wir sind erstaunt, dass sich etwa die Kurden, die ja auch keinen leichten Stand haben, im Zweifel lieber mit den türkischen Moslems solidarisieren als mit den ebenfalls häufig diskriminierten Christen. Zum Schluss zeigt uns Isa noch einige schöne Handschriften ihrer Bibeln und Gebetbücher.
In der Altstadt bietet fast jede Ecke ein Fotomotiv. Wir bummeln noch ein wenig und vergammeln dann den Nachmittag im Hotel. Abends gehen wir in ein einfaches Lokanta. Diese schlicht eingerichteten Restaurants bieten im Grunde Fast Food, jedoch der besseren Art. Reis-, Eintopf- und andere Gerichte warten in großen Töpfen vor sich hindampfend auf ihren Verzehr.
Züchtige Blicke - von Rendel
Schon öfter hatte ich in der Türkei empfunden, dass es als "unschicklich" angesehen werden kann, wenn man als Frau einen Mann anschaut und anlächelt. Besonders extrem empfand ich dies in der sehr traditionell geprägten Stadt Midyat und Umgebung. Von den Männern dieser Stadt habe ich nur die Schuhe gesehen, weil ich meinen Blick gesenkt gehalten habe. Dabei sehe ich den Menschen so gerne in die Augen, man kann darin so viel lesen! Außerdem lächle ich andere gerne an - aber wenn dies als ein unmoralisches Angebot verstanden wird, verzichte ich lieber darauf. In der Nähe von Midyat bedankte ich mich (freundlich lächelnd) bei einem Kurden, der uns behilflich gewesen war. Kurze Zeit später drückte er sich an mich und küsste mich auf die Wange. Das war mir eine Lehre, vorsichtiger zu sein.
Allerdings kann man wohl keine pauschalen Urteile fällen. In den traditionell geprägten Städten sieht man Frauen mit Burka, aber auch sehr modern gekleidete Frauen ohne Kopftuch. Man sieht Paare Arm in Arm spazieren und auch Frauen, die zwei Meter hinter ihrem Mann hergehen. Man sieht auf der einen Seite Frauen, die den Augenkontakt mit Männern meiden, und anderswo Freunde, bei denen sich Männer und Frauen mit Wangenküssen begrüßen. In einigen Gegenden fand ich es jedenfalls schade, dass ich mit meinen gewohnten und meinerseits unverfänglich gemeinten Umgangsformen missverstanden werden kann, und habe es vorgezogen, meine Freiheit darin selbst einzuschränken.